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03516 Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz

Der Beitrag erläutert zunächst Typen und Formen von Gewalt am Arbeitsplatz und beziffert das Ausmaß des Phänomens. Anschließend werden die wesentlichen Ursachen, die häufigsten Folgen und die rechtlichen Rahmenbedingungen von Gewalt am Arbeitsplatz benannt.
Im Zentrum des Beitrags steht die Lösungsorientierung, also die Frage, was in Betrieben präventiv getan werden kann und auch getan werden sollte, um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Gewalt zu reduzieren. Im Sinne der Sekundärprävention wird in diesem Zusammenhang auch skizziert, welche Maßnahmen man verfolgen sollte, um die Verschlimmerung von (Spät-)Folgen zu vermeiden, sofern es tatsächlich zu einem Fall von Gewalt im Betrieb kommen sollte.
von:

1 Definition und Typen von Gewalt am Arbeitsplatz

Die Begrifflichkeit „Gewalt am Arbeitsplatz” wird von der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation – ILO) als Vorkommnis definiert, bei dem Beschäftigte im Verlauf oder in direkter Folge ihrer Arbeit beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen werden.
Betriebsinterne – und externe Gewalt
Es ist sinnvoll, verschiedene Typen von Gewalt zu unterscheiden [1]. Man kann zwischen betriebsinterner und -fremder Gewalt unterscheiden. Während betriebsinterne Gewalt Auseinandersetzungen innerhalb der Belegschaft meint, spricht man von betriebsfremder Gewalt, wenn diese von Externen, etwa Kunden, Lieferanten etc., ausgeht. Eine andere Typologie unterscheidet zwischen situativ entstehender und vorsätzlicher Gewalt: Diese Differenzierung ist deshalb von großer praktischer Relevanz, weil sich daraus unterschiedliche Präventionsstrategien ableiten lassen: Es macht einen großen Unterschied, ob man beispielsweise einen situativ entstandenen Konflikt deeskalieren möchte oder sich mit einer lang geplanten Tat konfrontiert sieht. Fälle von Gewalt am Arbeitsplatz kann man insofern unterscheiden, als es unterschiedliche Entwicklungsdynamiken gibt: Es gibt Fälle, die aus einer Situation heraus entstehen, und andere Taten, die nach einer – oft langen – Phase der Planung und somit mit zeitlichem Vorlauf ausgeübt werden.
Situative und vorsätzliche Gewalt
Situative – auch affektive – Gewalt ist ein aggressives Verhalten, das aus der Situation heraus entsteht und somit eine reaktive Komponente besitzt. Charakteristisch für diesen Typ von Gewalt ist eine ausgeprägte physiologische Erregung. Diese kann beispielsweise eine Folge von Wut sein. Situative bzw. affektive Gewalt wird auch als „heiße Gewalt” bezeichnet. Unter zielgerichteter Gewalt versteht man einen Typ der Gewalt, bei dem die Tat mit einem zeitlichen Vorlauf (lange) geplant wurde. Bei diesem Typ fehlt sowohl die für die situative Gewalt typische physiologische Erregung als auch das Gefühl einer akuten Bedrohung. Dieser Typ zeichnet sich durch kognitive Planung aus und wird oftmals auch als „vorsätzlich” beschrieben. Er wird daher auch als „kalte Gewalt” bezeichnet. Um den zielgerichteten bzw. geplanten Typ von Gewalt handelt es sich in der Regel bei den Fällen von Gewalt, die mit krimineller Absicht verübt werden. Dieser Gewalttyp kann aber auch die Folge einer über einen längeren Zeitraum angestauten Frustration sein, in deren Folge jemand für sich entscheidet, sich an seinem Umfeld zu rächen. Dies kann insbesondere bei betriebsinterner Gewalt der Fall sein.

2 Formen von Gewalt

Die Gewalt am Arbeitsplatz zeigt sich in vielfältiger Art und Weise: Menschen werden (auch) in der Arbeitswelt beleidigt, beschimpft, bedroht, diskriminiert, gekränkt, gemobbt, sexuell belästigt, nicht selten auch Opfer von Stalking und in manchen Fällen auch Opfer von körperlichen Übergriffen. In sehr seltenen Fällen verlieren Menschen als Folge von Gewalt am Arbeitsplatz sogar ihr Leben.
Mobbing und Bossing
Am häufigsten tritt Gewalt am Arbeitsplatz in Form von verbaler Gewalt auf: Beschäftigte werden nicht selten während ihrer Tätigkeit beschimpft und beleidigt. Vor allem betriebsinterne ist oft psychische Gewalt. Es gibt unterschiedliche Wege, Kolleginnen und Kollegen psychisch zu kränken: als Folge von mangelnder Empathie oder mit Vorsatz. In den 1980er-Jahren führte Heinz Leymann, ein in Schweden lebender deutschstämmiger Psychologe, den Begriff „Mobbing” ein, um schwere Formen psychischer Gewalt in Organisationen zu beschreiben [2]. Das Substantiv „Mob” bedeutet „Horde” oder „Schar”. Die sprachliche Herkunft macht deutlich, dass es sich beim Mobbing um ein Gruppenphänomen handelt, das eine spezifische Form von psychischer Gewalt ist. Unter „Mobbing” in der Arbeitswelt versteht man wiederholte negative Handlungen, die über einen längeren Zeitraum in verletzender Absicht gegen Beschäftigte gerichtet sind und zum Ausschluss des bzw. der Betroffenen aus der Arbeitsgemeinschaft führen können. Typische Formen von Mobbing sind die Kontaktverweigerung durch Nichtantworten, das Ignorieren und Ähnliches. Eine Teilmenge bzw. Sonderform von Mobbing ist das sogenannte Bossing. Dabei handelt es sich um Mobbing durch Vorgesetzte.
Eine besondere Form von Gewalt am Arbeitsplatz sind Fälle von sexueller Belästigung und sexuellen Übergriffen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definiert sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als eine Form der Benachteiligung, egal ob es sich dabei um Kommentare mit sexuellem Inhalt oder sexuell bestimmte Berührungen handelt.
Stalking ist einseitiger Kontaktwunsch
Eine weitere Form von Gewalt ist Stalking. Stalking tritt in der Regel als Beziehungstat auf und umfasst häufig Elemente sowohl psychischer als auch physischer Gewalt. Dabei wird die Privatsphäre regelmäßig missachtet: Der bzw. die Betroffene wird oftmals sowohl ins Privat- als auch ins Arbeitsleben hinein verfolgt [3]. Wie „Mobbing” oder „Bossing” kommt auch der Begriff „Stalking” aus dem Englischen: Er bedeutet so etwas wie sich anzupirschen und das Wild zu verfolgen. Stalker lauern ihren Opfern auf, sie stellen ihnen nach, spionieren ihr Leben aus, verfolgen sie, senden ihnen unzählige Briefe, Mails oder WhatsApp-Nachrichten, rufen sie ständig an, beschenken die Opfer gegen deren Willen oder tun andere vergleichbare Dinge.
Arten körperlicher Gewalt
Gewalt am Arbeitsplatz kann sich auch in Form von körperlichen Übergriffen bzw. physischer Gewalt abspielen. Dabei ist die Bandbreite groß: von vergleichsweise harmlosem Gerangel oder Schubsen über Handgreiflichkeiten bis hin zu Fällen von schwerer Körperverletzung. Entgegen dem von Medien nach Ereignissen wie brutalen Messerangriffen auf Beschäftigte etwa von Behörden erweckten Eindruck sind Fälle von schwerer Köperverletzung eher selten. Bei den Handgreiflichkeiten zwischen betriebsinternen bzw. -fremden Personen kommt es nach Angaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) in fast 70 Prozent der Fälle zu Prellungen, Verstauchungen oder oberflächlichen Hautverletzungen.

3 Ausmaß von Gewalt am Arbeitsplatz

Dokumentierte Fälle als Spitze des Eisbergs
Einen realistischen Überblick über das tatsächliche Ausmaß von Gewalt in der Arbeitswelt zu bekommen ist nahezu unmöglich, insbesondere weil die Dunkelziffer außerordentlich hoch ist. Dessen ungeachtet können für Deutschland der jährlich erscheinenden Arbeitsunfallstatistik der DGUV interessante Daten entnommen werden [4]. Die von der DGUV zusammengetragenen Daten unterliegen einigen Limitationen: Nicht erfasst sind die Arbeitsunfälle der rund zwei Millionen Beamtinnen und Beamten. Allein schon aus diesem Grund sind die im Folgenden präsentierten Zahlen deutlich niedriger als das tatsächliche Ausmaß der Gewalt am Arbeitsplatz. Hinzu kommt ein zweiter wichtiger Aspekt: In dieser Statistik tauchen nur die Arbeitsunfälle auf, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von mindestens vier Tagen führten. Schließlich sollte noch ein dritter Aspekt bedacht werden: Insbesondere in Fällen von betriebsinterner Gewalt kann es durchaus vorkommen, dass ein Arbeitgeber bzw. ein Vorgesetzter versucht, gewisse Ereignisse „unter den Tisch zu kehren”. Auch wenn das betroffene Opfer um seinen Arbeitsplatz fürchtet, wird es ggf. auf den Gang zu einem Arzt und auf eine längere Arbeitsunfähigkeit verzichten. Auch Arbeitsunfälle als Folge psychischer Gewalt inklusive Fällen von Mobbing tauchen in dieser Statistik nicht auf, da es sich nach einem Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 19. März 2014 dabei nicht um Arbeitsunfälle handelt. Allein schon aus diesen vier Gründen ist das tatsächliche Ausmaß von Gewalt in der Arbeitswelt deutlich höher als in den Dokumentationen der DGUV ausgewiesen.
Gewaltunfälle
In der Statistik der DGUV werden Unfälle als Folge von Gewalt mit dem Merkmal „Abweichung vom normalen (unfallfreien) Verlauf” erfasst. Dabei wird unterschieden, ob die Gewalt von Beschäftigten des eigenen Unternehmens, also betriebsinternen Personen, oder von betriebsfremden Personen ausgegangen ist. Die Zahl der in der Statistik erfassten meldepflichtigen Unfälle aufgrund von Gewalt, Angriff, Bedrohung und Überraschung/Schreck (verstanden als abgeschwächte Form von Angriffen, bei denen es zu einem Unfall infolge einer Überraschung bzw. eines Schrecks kommt) liegt seit einigen Jahren relativ konstant im Bereich von ca. 12.000 bis 20.000 Fällen pro Jahr. Neben der absoluten Häufigkeit ist die Einordnung dieser Gewaltunfälle in das Gesamtunfallgeschehen von Interesse.
Öffentlicher Dienst häufiger betroffen
Bezogen auf die Daten des Jahres 2021 sind die höchsten Anteile von Gewaltunfällen an der Gesamtunfallzahl im Bereich der Wach- und Sicherheitsdienste zu verzeichnen, bei denen über ein Fünftel der meldepflichtigen Arbeitsunfälle im Betrieb Gewaltunfälle sind. In Pflege- und Altenheimen sind es etwa zwölf Prozent. Im öffentlichen Dienst sind die psychiatrischen Krankenhäuser mit einem Anteil von fast 30 Prozent sowie Bahnbetriebe mit neun Prozent besonders betroffen. Insgesamt liegt der Anteil der Gewaltunfälle an den meldepflichtigen Arbeitsunfällen bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften bei knapp zwei und bei den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand bei ca. vier Prozent.

4 Ursachen von Gewalt am Arbeitsplatz

Selbstverständlich gibt es nicht die eine allgemeingültige Ursache für Gewalt am Arbeitsplatz. Jede Tat hat eine einzigartige Historie, und kaum ein Delikt kann monokausal erklärt werden. Die unterschiedlichen Formen von Gewalt haben in aller Regel auch einen unterschiedlichen Ursprung.
Einfluss von Rahmenbedingungen
Ob und inwieweit vorhandene Aggressionen zur Ausübung von Gewalt in massiver Form führen, hängt stark von situativen Rahmenbedingungen ab, den sogenannten Auslösebedingungen. Zu diesen Bedingungen gehören ein soziales Klima, das die Ausübung von Gewalt begünstigt, der übermäßige Konsum von Alkohol und Drogen sowie gewaltverherrlichender Medien. Zu den Rahmenbedingungen, die Einfluss auf die Ausübung von Gewalt haben, gehören auch die sogenannten gewaltauslösenden Reize. Unter diesem Begriff wird eine Reihe unterschiedlicher Einflussfaktoren zusammengefasst. Zu den wichtigsten Einflussgrößen gehören Stress, lange Wartezeiten, inadäquate Kommunikation, aber – insbesondere im Fall von betriebsinterner Gewalt – auch Gefühle wie Angst, Eifersucht, Neid, Ärger, Wut, Frustrationen und Kränkungen.
Betriebsinterne Gewalt
Es gibt berufliche Rahmenbedingungen, in denen sich Formen von Gewalt eher entfalten können als in anderen. Das sind Bereiche mit konstant hohem Stressniveau, vor allem aber die Institutionen, in denen ein autoritärer Führungsstil vorherrscht und in denen es bei Gewalttaten eine Kultur des Wegschauens und somit zumindest implizit der Duldung von Gewalt gibt. Kritisch und mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit der Entstehung und zumindest impliziten Billigung von Gewalt ist eine Kultur, in der sich die Beschäftigten nicht trauen, offen ihre Meinung zu artikulieren und somit auch auf etwaige Missstände, beispielsweise aggressives Verhalten oder Gewaltbereitschaft, hinzuweisen.

5 Folgen von Gewalt

Psychische Folgen dominieren
Die Folgen von Gewalt am Arbeitsplatz können sehr vielfältig sein. Bei den meisten Übergriffen stehen nicht körperliche, sondern psychische Folgen im Vordergrund. Die Reaktionen auf Übergriffe können sehr unterschiedlich sein: Gefühle wie Angst, Verunsicherung, Ohnmacht und Schlafstörungen sind weit verbreitet. Insbesondere bei Fällen von betriebsinterner Gewalt schwindet die Identifikation mit und die Bindung an den Arbeitgeber. Langanhaltende posttraumatische Belastungen sind eher selten.
Bedeutung von Resilienz
Von Gewalt betroffene Menschen reagieren insbesondere in psychischer Hinsicht höchst unterschiedlich auf vergleichbare Ereignisse. Dabei spielen Phänomene wie Resilienz, vereinfacht mit „Widerstandsfähigkeit” umschrieben, eine wesentliche Rolle. Ein ganz wesentlicher Faktor ist die Frage, ob jemand über ein intaktes soziales Umfeld verfügt. Menschen, die sich in instabilen Lebenssituation befinden, sind deutlich anfälliger für länger andauernde psychische Folgen von Gewaltereignissen als andere Betroffene, die über entsprechende Schutzfaktoren verfügen.

6 Rechtliche Rahmenbedingungen der Gewaltprävention

Pflicht, für Sicherheit zu sorgen
Arbeitgeber haben nicht nur das betriebswirtschaftliche Interesse und die moralische Verantwortung, sondern auch die rechtliche Verpflichtung, im Rahmen des Arbeitsschutzes Maßnahmen zur Sicherheit ihrer Beschäftigten und somit auch zur Gewaltprävention zu ergreifen. In Bezug auf die Prävention von Gewalt sind vor allem zwei Gesetze relevant: das Arbeitsschutzgesetz und das Arbeitssicherheitsgesetz.
Das „Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz – ArbSchG)” verfolgt das Ziel, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern (§ 1 ArbSchG). In § 3 ArbSchG zu den „Grundpflichten des Arbeitgebers” heißt es in Absatz 1:
„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.”
Den in § 3 geregelten Grundpflichten folgen in § 4 „Allgemeine Grundsätze des Arbeitsschutzes”. Die mit Blick auf die Gewaltprävention relevanten Grundsätze lauten:
„Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst geringgehalten wird. Gefahren sind an ihrer Quelle zu bekämpfen.”
Das „TOP-Prinzip” der Gewaltprävention
Die allgemeinen Grundsätze legen in Bezug auf Prävention eine Reihenfolge fest: erst technische, dann organisatorische und erst an dritter Stelle personenbezogene Maßnahmen. Experten aus dem Bereich der Unfallversicherungsträger sprechen in diesem Zusammenhang auch vom TOP-Prinzip des Arbeitsschutzes. Wörtlich heißt es in § 4 Abs. 1 ArbSchG:
„Maßnahmen sind mit dem Ziel zu planen, Technik, Arbeitsorganisation, sonstige Arbeitsbedingungen, soziale Beziehungen und Einfluss der Umwelt auf den Arbeitsplatz sachgerecht zu verknüpfen. Individuelle Schutzmaßnahmen sind nachrangig zu anderen Maßnahmen. Spezielle Gefahren für besonders schutzbedürftige Beschäftigtengruppen sind zu berücksichtigen.”

7 Bestandteile eines umfassenden Präventions- und Sicherheitskonzepts

Ein integriertes Präventions- und Sicherheitskonzept besteht aus mehreren Teilen:
einer entsprechenden Unternehmenskultur, die Wert auf Sicherheit legt,
sensibilisierten Führungskräften mit dem erforderlichen Gespür für schwelende Konflikte und Gefahren,
der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen,
der Umsetzung des „TOP-Prinzips”, also von technischen, organisatorischen und personellen Einzelmaßnahmen,
Empfehlungen für den Umgang mit Drohungen und Bedrohungen, ggf. inklusive Einführung eines Bedrohungsmanagements,
einem umfassenden Nachsorgeprogramm und Dokumentationssystemen.
Im Folgenden werden die einzelnen Bestandteile eines umfassenden und integrierten Präventions- und Sicherheitskonzepts näher erläutert.

7.1 Die Bedeutung der Unternehmenskultur

Enttabuisierung
Eine Grundvoraussetzung für das Gelingen präventiver Maßnahmen gegen Gewalt am Arbeitsplatz ist eine Unternehmenskultur, die einerseits offen und lösungsorientiert mit diesem Thema umgeht, andererseits aber auch klar zum Ausdruck bringt, dass Gewalt jedweder Form in der Organisation strikt abgelehnt wird. Nur wenn das Thema „Gewalt am Arbeitsplatz” in all seinen Facetten – egal ob betriebsextern oder -intern – enttabuisiert wird, können die nachfolgend beschriebenen Präventionsmaßnahmen auf den Gebieten Technik, Organisation und Personal tatsächlich greifen. Wenn Beschäftigte beispielsweise den Eindruck haben, dass sie von Vorgesetzten und/oder von Kolleginnen und Kollegen als ängstlich, überempfindlich oder überfordert angesehen werden, wenn sie Fälle von Gewalt melden, dann fehlt die Basis sowohl für künftige Meldungen als auch für erfolgversprechendes Präventionshandeln.

7.2 Die Verantwortung der Führungskräfte

Führungskraft hat Vorbildfunktion
Obwohl die spezifische Kultur eines Unternehmens bzw. eines Betriebs immer durch das Zusammenspiel aller Mitglieder dieser Organisation entsteht, kommt den Führungskräften eine besondere Rolle zu: die Vorbildfunktion. Topmanager/-innen sowie Führungskräfte des oberen und des mittleren Managements sind die Gruppen in der Organisation, die den stärksten Einfluss auf die Bildung, Bewahrung oder auch Veränderung der Kultur haben. Durch ihr Verhalten, Handeln, Prioritätensetzungen etc. werden Signale gesendet, die von den anderen Beschäftigten als organisationsrelevante Werte wahrgenommen und häufig auch – bewusst oder unbewusst – adaptiert und imitiert werden. Für die Gewaltprävention ist es daher ausgesprochen wichtig, dass gerade Führungskräfte wachsam und sensibel für schwelende Konflikte und offen für entsprechende Hinweise der Beschäftigten sind.

7.3 Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen

Bei der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen sollten folgende Grundregeln beachtet werden:
Der Umfang der Gefährdungsbeurteilung sollte sich an den betrieblichen Anforderungen und Gegebenheiten orientieren.
Eine Gefährdungsbeurteilung sollte systematisch und strukturiert ablaufen, damit alle erkennbaren Gefahren und Gefährdungen untersucht werden.
Die Beschäftigten sollten in das gesamte Verfahren einbezogen werden.
Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilungen müssen Quellen gewaltauslösender Reize zunächst identifiziert und dann eliminiert werden. Zu den Reizen, die gewissermaßen ein Fass zum Überlaufen bringen können, gehören etwa lange Wartezeiten. Gibt es beispielsweise in Wartebereichen etwas zu trinken oder Zeitschriften zum Durchblättern, dann kann dies die subjektiv empfundene Wartezeit verkürzen und somit der Entstehung von Aggressionen und daraus resultierender Gewalt entgegenwirken. Umgekehrt sind etwa fehlende Sitzgelegenheiten oder defekte Toiletten das Gegenteil von präventiven Maßnahmen. Hilfreich für die Identifikation potenziell gewaltauslösender Reize ist das Hinzuziehen von externen Experten, da das betriebseigene Personal möglicherweise „betriebsblind” ist. Mit externem Sachverstand und dem daraus resultierenden Blick von außen können nicht nur bauliche bzw. räumliche Reize erkannt, sondern auch beispielsweise Prozesse hinterfragt werden. Erkennt und vor allem beseitigt man diese Reize, ist dies schon ein wichtiger Schritt in Richtung Prävention. Eine potenzielle Gefährdung zu entdecken ist gut. Noch wichtiger ist es, diese Gefahrenquelle dann auch zu beseitigen.

7.4 Das TOP-Prinzip der Gewaltprävention

Im Arbeitsschutz orientieren sich die Präventionsmaßnahmen grundsätzlich an den Erkenntnissen aus der Gefährdungsbeurteilung gemäß § 5 Abs. 3 ArbSchG. Bei diesen Gefährdungsbeurteilungen sollten auch mögliche Gewaltsituationen analysiert und entsprechende präventive Schutzmaßnahmen entwickelt werden. Diese Präventionsmaßnahmen richten sich dabei nach dem sogenannten TOP-Prinzip, wobei das „T” für technische, das „O” für organisatorische und das „P” für personenbezogene Schutz- bzw. Präventionsmaßnahmen steht.
Zu den technischen Präventions- bzw. Schutzmaßnahmen zählen beispielsweise Überwachungs- und Alarmierungssysteme, eine adäquate Beleuchtung, Zugangsbeschränkungen für Gebäude und Räume, die den einfachen Zugang für nicht autorisierte Personen verhindern, und die Einrichtung von Fluchtwegen.
Im Bereich der organisatorischen präventiven Schutzmaßnahmen kann man als Arbeitgeber bzw. Beauftragter viel machen. Welche organisatorischen Maßnahmen im Einzelnen zielführend sind, hängt ganz erheblich vom Wirtschaftszweig bzw. von der Art der Beschäftigung ab: Insbesondere im Handel ist es in präventiver Hinsicht sinnvoll, Beschäftigte vor allem in den Abendstunden nicht allein arbeiten zu lassen, nicht nur weil Räuber gerne im Schutz der Dunkelheit zuschlagen, sondern auch weil sie sich am Ende eines Arbeitstags eine größere Beute versprechen. Auch an Arbeitsplätzen außerhalb des Handels, etwa in Tankstellen, sollten in den Abend- oder Nachtstunden Menschen nicht allein arbeiten. Zu den organisatorischen Präventionsmaßnahmen gehört, dass in den Betrieben klar geregelt ist, was in einem Ernstfall von wem wie zu tun ist.
Deeskalationsseminare
Die personenbezogenen Maßnahmen beginnen mit den im Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebenen Unterweisungen der Beschäftigten. Diese müssen wissen, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten sollten, um sich und – wenn ohne Eigengefährdung möglich – auch Kolleginnen und Kollegen zu schützen. Kern der personenbezogenen Präventionsmaßnahmen sind Angebote der Personalentwicklung wie insbesondere Deeskalationsseminare. Solche Angebote sind mittlerweile weit verbreitet. Ziel dieser Seminare ist es, Techniken eines deeskalierenden Verhaltens zu trainieren und es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf diese Weise zu ermöglichen, ihre Kompetenzen bei der Lösung sich anbahnender oder bereits existierender Konflikte zu stärken. Für Beschäftigte, die bei ihrer Arbeit regelmäßig mit potenziell aggressiven Menschen zu tun haben oder aus anderen Gründen bedrohlichen Situationen ausgesetzt sind, können Schulungen in deeskalierender Kommunikation sehr hilfreich sein. Solche Fortbildungen helfen dabei, in schwierigen Situationen die Kontrolle zu bewahren und deeskalierend zu handeln [5].
Selbstbehauptung und -verteidigung
Während Trainingsmaßnahmen im Sinne der Selbstbehauptung, etwa Hinweise zur Körper- und Kopfhaltung, sehr wichtig und auch vergleichsweise schnell erlernbar sind, sieht es in Bezug auf die Selbstverteidigung ganz anders aus: Sich wirklich effektiv selbst zu verteidigen lernt man nicht mal eben in einem zweitägigen Seminar. Dafür ist regelmäßiges Training erforderlich. Insofern sind Trainingsmaßnahmen zur Verbesserung der Selbstverteidigung geradezu gefährlich: Diese können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in trügerischer Sicherheit wiegen und sie zu der irrigen Annahme verleiten, sie könnten es mit dem Aggressor „aufnehmen”. Präventionsexperten raten daher von solchen „Schnellbleichen” ab.
Neben den Angeboten zum Umgang mit Konflikten können auch Seminare wie „Stressmanagement” oder „Stärkung der Resilienz” hilfreich sein, um die Beschäftigten auf Notfallsituationen vorzubereiten. Diese Trainingsmaßnahmen zielen darauf ab, den Umgang mit Stress durch das Üben und Wiederholen standardisierter Bewältigungsformen zu optimieren und dadurch die eigene Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.

7.5 Empfehlungen für den Umgang mit Drohungen und Bedrohungen

Es ist recht genau bekannt, welche Risikofaktoren von Bedeutung sind, wenn man die Gewaltbereitschaft von Menschen beurteilen möchte. Zu diesen Risikofaktoren zählen ihre Lebensgeschichte, ihr aktuelles Verhalten, ihre Einstellungen und ihre Zukunftsperspektiven [6]. Der aussagekräftigste Risikofaktor für gefährliches Verhalten und somit für ein künftiges Gewaltdelikt ist ein früheres gewalttätiges Verhalten. Besonders groß ist das Risiko dann, wenn sich die Gewaltbereitschaft wie ein roter Faden durch das ganze Leben eines Menschen zieht.
Viele Taten haben Vorzeichen
Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass es im Vorfeld von Gewalttaten oftmals entsprechende Vorzeichen und Signale gibt. Solche Vorzeichen sind Warnsignale, die man bei genauem Hinsehen oder Hinhören oft erkennen kann. Daher ist es im Umgang mit schwierigen Kunden – ggf. auch mit Kolleginnen und Kollegen – sowie im Fall einer direkten Konfrontation mit einer Drohung wichtig, auf folgende Punkte zu achten:
ungute Gefühle wahrnehmen und nicht unterdrücken
auf Bauchgefühl achten
artikulierte Drohungen oder Warnungen ernst nehmen
wenn möglich – ohne sich zu gefährden –, das Gespräch mit der drohenden Person suchen und versuchen zu deeskalieren
Meldung an Vorgesetzten und im Falle großen Risikos an die nächste Polizeistelle
Zeigt sich, dass das Gefährdungspotenzial eines Betriebs groß ist und es in der Vergangenheit dort immer wieder zu Fällen von Drohungen, Bedrohungen und auch tatsächlich ausgeübter Gewalt gekommen ist, so ist die Etablierung eines Bedrohungsmanagements sinnvoll. Der Ausgangspunkt des Bedrohungsmanagements ist die Erkenntnis, dass vielen Fällen von Gewaltdelikten kritische Verhaltensweisen aufseiten des späteren Täters vorausgehen [7]. Oftmals können im Vorfeld ihrer Taten sogenannte Warnsignale identifiziert werden. Dazu zählen neben explizit geäußerten Drohungen beispielsweise auch das Zeigen von Waffen sowie verbale oder nonverbale Grenzüberschreitungen.
Aufbau eines Bedrohungsmanagements
Beim Bedrohungsmanagement geht es darum, Eskalationsgefahren bei einzelnen Personen möglichst früh zu erkennen, diese qualifiziert einzuschätzen und schließlich das Risikopotenzial langfristig zu reduzieren. Der Aufbau eines Bedrohungsmanagements läuft in mehreren Schritten ab.
Grundvoraussetzung ist zunächst, dass sich die Leitungsebene einer Organisation dieses Themas annimmt und damit zeigt, dass das Topmanagement hinter der Philosophie des Bedrohungsmanagements steht. Der erste Schritt bei der Implementierung eines Bedrohungsmanagements besteht in der Information und der Sensibilisierung der Beschäftigten, um die erforderliche Aufmerksamkeit für mögliche bedrohliche Verhaltensweisen zu schaffen und einen strukturierten Prozess mit ausgewählten Mitarbeitern aufzubauen. Diese Aufmerksamkeit von möglichst vielen Beschäftigten ist die Voraussetzung dafür, dass das Ziel des Bedrohungsmanagements erreicht werden kann, durch ein rechtzeitiges Erkennen kritischer Dynamiken und rechtzeitige Intervention Gewalttaten am Arbeitsplatz zu verhindern. Schritt 2 besteht in der Qualifizierung von geeigneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sogenannten Erstbewertern. Wichtig ist, dass sich das Team von Erstbewertern aus Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Bereiche wie etwa Personalmanagement, Recht, Arbeitssicherheit, Unternehmenssicherheit etc. zusammensetzt, um dank dieser interdisziplinären Zusammensetzung über unterschiedliche Perspektiven der Bewertung eines Falls zu verfügen. Diesen Erstbewertern kommt eine ganz wesentliche und vor allem sehr verantwortungsvolle Aufgabe zu: Sie müssen eine Einschätzung der Gefährdungslage vornehmen. In aller Regel tun sie dies auf der Basis von Gesprächen sowohl mit den Personen, die meinen, entsprechende Warnsignale wahrgenommen zu haben, als auch mit den Personen, von denen die Gefahr (angeblich) ausgeht. Der dritte Schritt besteht – sofern tatsächlich Gefahr im Verzug ist – in der Eliminierung dieser Gefahr. Dies ist in aller Regel eine Angelegenheit der Polizei und erfolgt im Rahmen von sogenannten Gefährderansprachen.

7.6 Handeln nach einem Vorfall: Nachsorge und Dokumentation

Beeinträchtigung nicht unmittelbar Betroffener
Kommt es zu einem (schwerwiegenden) Fall von Gewalt am Arbeitsplatz, so ist eine umfassende Betreuung der betroffenen Person(en) sowie ggf. weiterer Beschäftigter zwingend zu realisieren. Übergriffe können für Betroffene, aber auch für Zeugen erhebliche Folgen auch psychischer Art haben. Einer fachgerechten Nachsorge kommt die Aufgabe der Sekundärprävention insofern zu, als durch eine zeitnah nach dem Gewaltereignis erfolgte qualitätsgesicherte Betreuung zumindest die Verschlechterung des Zustands der betroffenen Person sowie entsprechende Folgen vermieden werden können. Auch die Dokumentation des Vorfalls ist von großer Bedeutung: erstens um daraus Rückschlüsse für künftiges Präventionshandeln ziehen zu können, zweitens aber auch aus versicherungs- und ggf. auch zivil- bzw. strafrechtlichen Gründen.
Betriebliche Konzepte zur Betreuung von Beschäftigten nach Übergriffen bzw. traumatischen Ereignissen sollten (mindestens) folgende Module umfassen:
Innerbetriebliche Organisation und Festlegung von Verantwortlichkeiten
Notfallpläne und Rettungsketten
Akutversorgung: medizinische und psychologische Erste Hilfe
Dokumentation von Vorfällen
Unterstützung der Betroffenen bei der Rehabilitation und bei der Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit
Schriftliche Betreuungskonzepte
Das betriebliche Betreuungskonzept muss mit dem Betriebs- oder Personalrat abgestimmt werden. Häufig geschieht dies in Form einer Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung über die Betreuung von Beschäftigten nach traumatischen Ereignissen. In jedem Fall sollte das Konzept in schriftlicher Form vorliegen. Den Beschäftigten sollten die Ziele und Inhalte des Betreuungskonzepts bekannt gemacht werden. Damit schafft das Unternehmen Vertrauen und verbessert die Akzeptanz für die im Konzept getroffenen Maßnahmen.

7.6.1 Festlegung von Verantwortlichkeiten

Eine optimale Betreuung der Betroffenen nach Ereignissen mit ausgeprägter psychischer Belastung erfordert ein betriebsspezifisch festgelegtes Vorgehen, das für die Betroffenen schnelle und nachhaltige Hilfe sicherstellt. Wichtige Elemente des Betreuungskonzepts sind die Festlegung von Verantwortlichkeiten und die Koordinierung der Abläufe im Unternehmen durch eine Koordinatorin oder einen Koordinator, einen „Kümmerer”. Häufig wird diese Funktion einer Führungskraft auf der Ebene des mittleren oder oberen Managements übertragen. Je nach Unternehmensgröße und -struktur kann diese Rolle auch durch die Betriebsärztin bzw. den Betriebsarzt einer Fachkraft für Arbeitssicherheit oder jemandem aus dem Bereich des Personalmanagements übertragen werden. Bei der Auswahl dieser Person sollte sichergestellt werden, dass sie mit den Abläufen im Unternehmen gut vertraut und im Regelfall anwesend ist.
Aufgaben der Koordinatoren
Die Aufgaben der Koordinatorin bzw. des Koordinators bestehen im Wesentlichen darin,
Informationen zusammenzuführen und den Überblick zu haben,
die Einsatzplanung der Erstbetreuer/-innen vorzunehmen,
sich mit der Betriebsärztin bzw. dem Betriebsarzt abzustimmen,
die Vorstellung beim Durchgangsarzt zu organisieren,
den Kontakt zum zuständigen Unfallversicherungsträger entweder selbst aufzunehmen oder alternativ zu veranlassen,
sofern erforderlich, die Behandlung durch geeignete Therapeutinnen und Therapeuten zu organisieren,
das betriebliche Verfahren zu dokumentieren und
Ansprechperson zu sein, sowohl innerbetrieblich als auch im Außenverhältnis.

7.6.2 Notfallpläne und Rettungsketten

Die meisten Betriebe verfügen über Notfallpläne. Diese sind häufig einseitig an der Organisation der medizinischen Ersten Hilfe orientiert. Bei aller Bedeutung der Organisation der medizinischen Ersten Hilfe sollten die Notfallpläne auch Prozesse in Bezug auf psychologische Erste Hilfe umfassen – insbesondere, weil nach Übergriffen am Arbeitsplatz in der Regel deutlich häufiger psychische als körperliche Folgen auftreten. Die Notfallpläne sollten Antworten auf folgende Fragen geben:
Wo und wie wird der Übergriff gemeldet?
Wer wird von wem wann und wie über das Ereignis und den Zustand des oder der Betroffenen informiert?
Wer übernimmt die Erstbetreuung, und wie werden die Erstbetreuer alarmiert?
Wer nimmt ggf. Kontakt zu Angehörigen auf?
Sinnvolle Info-Instrumente
In der Praxis haben sich Instrumente wie Flyer, Aushänge, Notfallmappen etc. mit den notwendigen Informationen bewährt. In diesen Produkten sollten neben den relevanten Kontaktdaten der Erstbetreuerinnen und Erstbetreuer sowie den Adressen von Ärztinnen und Ärzten auch der betriebliche Prozess sowie Informationen zum betrieblichen Betreuungskonzept dokumentiert sein. Unabhängig von der betrieblichen Hilfeleistung sollte gewährleistet sein, dass zeitnah eine Unfallanzeige beim zuständigen Unfallversicherungsträger erfolgt, damit die ggf. erforderlichen weiteren Maßnahmen, etwa Maßnahmen der Rehabilitation, von dort aus frühzeitig organisiert werden können.

7.6.3 Akutversorgung

Phasen nach belastenden Stressereignissen
Bei der Nachsorge nach belastenden Stressereignissen sind neben der medizinischen Ersten Hilfe in psychologischer Hinsicht verschiedene Phasen zu unterscheiden, in denen auch unterschiedliche Interventionen erfolgen sollten.
Schockphase (Dauer: bis ca. 48 Stunden nach dem Ereignis)
Akutphase (Dauer: bis ca. vier Wochen nach dem Ereignis)
Phase der akuten posttraumatischen Belastungsstörung (Dauer: mehrere Wochen)
chronische posttraumatische Belastungsstörung (Dauer: mehrere Monate)
Für die unmittelbare Unterstützung innerhalb eines Betriebs ist in erster Linie die Schockphase relevant. Typische Symptome in dieser Schockphase sind:
Betäubung
Erstarrung
hektische Aktivität
Verzweiflung, Angst, Entsetzen
körperliche Reaktionen wie Herzrasen oder Zittern
Gedächtnislücken
Teilnahmslosigkeit
Zeitnahe Erstbetreuung unabdingbar
Diese Symptome können nach der Schockphase wieder abklingen, sie können aber unbehandelt auch zu psychischen Gesundheitsstörungen mit schwerwiegenden Folgen für die Beschäftigten und auch die Unternehmen führen. Die Betreuung Betroffener sollte daher sehr zeitnah nach dem Eintreten eines psychisch belastenden Ereignisses möglichst noch am Ort des Ereignisses beginnen. Die Erstbetreuung erfolgt durch geschulte Personen – Erstbetreuer oder Notfallhelfer. Diese werden unmittelbar nach einem Unfall benachrichtigt und leisten Betroffenen Hilfe, ohne gleichzeitig andere Aufgaben übernehmen zu müssen. Bei der Erstbetreuung kommt es auf ein möglichst zeitnahes Kümmern und „Nicht-allein-Lassen” an [8]. Bei der Betreuung durch Erstbetreuerinnen und -betreuer handelt es sich nicht um eine professionelle psychologische Betreuung. Diese ist in der Mehrzahl der Fälle auch gar nicht erforderlich. Die Begrifflichkeit „Psychologische Erste Hilfe” ist insofern irreführend, als es sich bei diesem Ansatz eben gerade nicht um eine Intervention durch professionelle Psychologen, sondern um eine Betreuung durch geschulte Kolleginnen und Kollegen oder externe Kräfte handelt.
Aufgaben der Erstbetreuung
In der Schockphase geht es bei der Psychologischen Ersten Hilfe um die Vermittlung von physischer und psychischer Sicherheit und all die Dinge, die das Wohlbefinden fördern, etwa die verbale und emotionale Unterstützung der Opfer, aber auch – sofern das Opfer dies akzeptiert bzw. wünscht – auch eine Umarmung oder das Halten einer Hand. Da sind in erster Linie die direkten Kolleginnen und Kollegen, aber auch die Führungskräfte gefragt. In dieser Phase ist es wichtig, eine unterstützende Beziehung zwischen Opfer und Helfern herzustellen, Empathie zu zeigen und Orientierung zu geben. Der Erstbetreuer bzw. die Erstbetreuerin sollte ausschließlich für die Erstbetreuung der oder des Betroffenen zuständig sein. Zu den wichtigsten Aufgaben der Erstbetreuung zählen
die zeitnahe Kontaktaufnahme mit der oder dem Betroffenen,
das Gewährleisten von emotionalem Beistand wie etwa Beruhigen,
die Abschirmung gegenüber externen Dritten wie ggf. Gaffern oder auch Vertreterinnen und Vertretern der Presse,
die Anforderung ärztlicher Hilfe bei Bedarf,
ggf. die Begleitung zum Arzt oder nach Hause sowie ggf. die Information von Angehörigen/Nahestehenden.

7.6.4 Dokumentation von Vorfällen

Bedeutung von Gewaltdokumentation
Alle Arten von Übergriffen – auch deren Androhung – sollten dokumentiert werden. Die Dokumentation hilft bei der Weiterentwicklung der Gefährdungsbeurteilung, der Festlegung von weiteren Präventionsmaßnahmen und der Entwicklung von Nachsorgemaßnahmen. Darüber hinaus dient die Dokumentation auch der rechtlichen Absicherung beteiligter Personen und erleichtert die Bearbeitung des Versicherungsfalls.
Jeder Gewaltvorfall ist versicherungsrechtlich ein Arbeitsunfall, wenn er einen körperlichen Schaden oder eine psychische Verletzung verursacht. Bei mehr als drei Tagen Arbeitsunfähigkeit muss ein Betrieb den Gewaltvorfall als Arbeitsunfall an die zuständige Unfallkasse oder Berufsgenossenschaft melden. Die Unfallversicherungsträger empfehlen, ein Gewaltereignis auch dann per Unfallanzeige zu melden, wenn keine unmittelbare Arbeitsunfähigkeit vorliegt, aber vermutet wird, dass der oder die Betroffene Unterstützung bei der Verarbeitung des Erlebnisses benötigt. Nur so erfährt der Unfallversicherungsträger von dem Vorfall und kann Unterstützung anbieten. Diese Hilfe ist vor allem deswegen wichtig, weil häufig unterschätzt wird, dass infolge eines solchen Ereignisses – auch wenn es auf den ersten Blick keine erkennbare Verletzung gibt – eine Traumatisierung vorliegen und sich somit zeitverzögert eine Arbeitsunfähigkeit ergeben kann.

7.6.5 Unterstützung bei der Rehabilitation und bei der Wiederaufnahme der Berufstätigkeit

Aufgrund langer Wartezeiten auf Termine für die psychologische bzw. psychotherapeutische Behandlung ist es sinnvoll, wenn Betriebe geeignete Psychotherapeutinnen oder -therapeuten in ihre betrieblichen Nachsorgekonzepte einbinden. Dann erhalten Betroffene früher Termine. Wichtig ist eine zeitnahe Meldung an den zuständigen Unfallversicherungsträger, weil dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Zugriff auf einen Pool an geeigneten Psychotherapeuten bzw. auf stationäre Rehabilitationseinrichtungen haben und daher eine rasche Behandlung organisieren können.
Zeitnahe Rückkehr wird angestrebt
In vielen Fällen wird mit zunehmender Dauer einer Arbeitsunfähigkeit die Integration in das Arbeitsleben immer schwieriger, weil Ängste, die häufig mit einer Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit verbunden sind, bei längeren Arbeitsunterbrechungen oft zunehmen. Daher sollte eine frühzeitige Rückkehr der von Übergriffen betroffenen Personen an ihren Arbeitsplatz angestrebt werden. Die in den Betrieben Verantwortlichen sollten sich somit in Abstimmung mit den Betroffenen, den behandelnden Ärzten bzw. Psychotherapeuten und dem Unfallversicherungsträger dafür einsetzen, dass die Beschäftigten möglichst rasch wieder an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurückkehren können. Sofern es für eine erfolgreiche Wiedereingliederung sinnvoll erscheint, sollten den Rückkehrern übergangsweise andere Tätigkeiten angeboten werden, bevor sie ihre vor dem Ereignis ausgeübte Tätigkeit wiederaufnehmen können.
BEM bei längerer Arbeitsunfähigkeit
War jemand innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig – egal, ob ohne oder mit Unterbrechung(en) –, muss ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) angeboten werden. Dabei geht es in erster Linie um ein gemeinsames Gespräch, bei dem Möglichkeiten für eine schrittweise Rückkehr ins Berufsleben oder eine Anpassung des Arbeitsplatzes bzw. der Tätigkeit besprochen und geplant werden.
Zentrale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reintegration ehemals psychisch traumatisierter Beschäftigter ist eine Unternehmenskultur, die sich durch einen wertschätzenden Umgang innerhalb der Belegschaft auszeichnet. Auf die besondere Verantwortung der Führungskräfte und speziell des oder der direkten Vorgesetzten wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen. Aber auch die Kolleginnen und Kollegen können den Integrationsprozess unterstützen und befördern, indem sie aufeinander achten und sich gegenseitig helfen und unterstützen.

Quellen

1
Pressel, Holger; Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz. Prävention. Deeskalation. Nachsorge. Freiburg. Haufe. 2020.
2
Leymann, Heinz; Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann. Reinbek. Rowohlt. 1993.
3
Hoffmann, Jens; Stalking. Heidelberg. Springer. 2006.
4
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Statistik Arbeitsunfallgeschehen. Berlin. Jährliches Erscheinen.
5
Institut ProDeMa (Institut für Professionelles Deeskalationsmanagement); Konzepthandbuch Professionelles Deeskalationsmanagement. Geislingen. 2022.
6
Sachs, Josef; Umgang mit Drohungen. Von Telefonterror bis Amoklauf. Orell. Füssli.
7
Hoffmann, Jens; Sicherer Arbeitsplatz – Gewalt, Angst und Arbeitsausfall durch ein psychologisches Bedrohungsmanagement verhindern. In: Hoffmann, J./Roshidi, K. (Hrsg.), Amok und andere Formen schwerer Gewalt. Risikoanalyse. Bedrohungsmanagement. Präventionskonzepte. Stuttgart. Schattauer. 266–295.
8
Wilk, Margarete/Wilk, Werner; Psychologische Erste Hilfe bei Extremereignissen am Arbeitsplatz. Berlin. Erich Schmidt Verlag. 2007.
 

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