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05157 Arbeitssicherheit bei Epilepsie

Mit drei Beispielen aus der betrieblichen Beurteilungspraxis

Bei der Klärung der beruflichen Möglichkeiten bei Epilepsie bedarf es einer inkludierten Gefährdungsbeurteilung. Wie riskant ein epileptischer Anfall am Arbeitsplatz ist, muss immer individuell ermittelt werden. Denn es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Anfallsformen, die einer Vielzahl möglicher beruflicher Tätigkeiten gegenüberstehen. Im folgenden Beitrag wird gezeigt, wie anfallsbedingte Risiken für konkrete berufliche Tätigkeiten ermittelt werden. Risikomatrizen dienen dabei der Orientierung. Schließlich werden Maßnahmen zur Arbeitssicherheit vorgeschlagen.
von:

1 Vom Anfall am Arbeitsplatz zur inkludierten Gefährdungsbeurteilung

Im Unfallbericht ist festgehalten, dass Herr Anton direkt nach der Mittagspause gegen 12:50 Uhr plötzlich das Bewusstsein verlor und stürzte. „Verdacht auf einen epileptischen Anfall” notiert der Notarzt am Unfallort.
Gesichter der Epilepsie
In Deutschland leben etwa 650.000 epilepsiekranke Menschen, etwa vier Millionen Menschen erleiden einmal in ihrem Leben einen Gelegenheitsanfall. Je nach beruflicher Tätigkeit variieren die Gefährdungen, die mit einem epileptischen Anfall mit plötzlichem Bewusstseinsverlust, Sturz oder unangemessenen Anfallshandlungen einhergehen.
Wäre Herrn Anton der epileptische Anfall als Gerüstbauer, als Lkw-Fahrer, als Berufstaucher oder als Chirurg widerfahren, hätte dies zu schweren Selbst- und Fremdverletzungen oder zum Tode führen können.
Wäre Herrn Anton der epileptische Anfall als Vorrichtungsbauer, Maler, Anlagenmechaniker oder Intensivkrankenpfleger widerfahren, müsste ebenfalls mit irreversiblen Selbst- und Fremdverletzungen gerechnet werden.
Wäre Herrn Anton der epileptische Anfall als Fahrradmonteur, Bäckereifachverkäufer oder Finanzbeamter widerfahren, müsste man wahrscheinlich nur mit reversiblen Selbstverletzungen rechnen (z. B. Prellungen, Schnittverletzungen).
Bei der Klärung der beruflichen Möglichkeiten bei Epilepsie und nach dem ersten epileptischen Anfall bedarf es einer inkludierten Gefährdungsbeurteilung, die die besonderen, personenbezogenen Merkmale des Epilepsiekranken berücksichtigt (bei Herrn Anton der plötzliche Bewusstseinsverlust mit Sturz). Bei der Erarbeitung der inkludierten Gefährdungsbeurteilung sollten der Betrieb, der erkrankte Mitarbeiter, der Betriebsarzt und die Fachkraft für Arbeitssicherheit interdisziplinär zusammenarbeiten.
Der Fachkraft für Arbeitssicherheit kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn sie kennt die Arbeitsbereiche im Betrieb mit den relevanten Tätigkeitsbeschreibungen. Sie ermittelt regelmäßig Gefährdungen, beurteilt diese und legt Schutzmaßnahmen fest. Die Schutzmaßnahmen werden regelmäßig auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und nach Möglichkeit weiter verbessert. Jeder Prozessschritt wird von der Fachkraft für Arbeitssicherheit sorgfältig dokumentiert.

2 Epileptische Anfallsrisiken ermitteln und wirksame Maßnahmen ergreifen

Es kann jeden treffen
Jeder Mensch hat ein Anfallsrisiko. Für die Fachkraft für Arbeitssicherheit ist es eine Binsenweisheit, dass es am Arbeitsplatz kein Null-Risiko gibt. Auch die Eintrittswahrscheinlichkeit für einen epileptischen Anfall liegt nicht bei null. So kann jeder gesunde Mensch in jedem Lebensalter einen ersten epileptischen Anfall erleiden. Tatsächlich tritt bei mindestens 5 % aller Menschen einmal im Leben ein Gelegenheitsanfall auf. Treten Anfälle wiederholt auf oder gibt es nach einem ersten Anfall Hinweise auf eine chronische Anfallserkrankung, wird die Diagnose Epilepsie gestellt. Knapp 1 % der Bevölkerung erkrankt an einer Epilepsie. Die medikamentöse Behandlung der Epilepsie führt bei 70 % aller Epilepsiekranken zu einer stabilen Anfallsfreiheit. Bei 30 % ist diese Sicherheit durch die medikamentöse Behandlung nicht zu erreichen, es besteht dann eine therapieresistente Epilepsie.
Nachfolgend wird gezeigt, wie valide anfallsbedingte Risiken ermittelt werden können und welche wirksamen Arbeitsschutzmaßnahmen bei anfallskranken Mitarbeitern möglich sind. Das Unfallrisiko bei epileptischen Anfällen kann mit folgender Formel ermittelt werden:
Unfallrisiko = Anfallswahrscheinlichkeit × Schädigungsfolgen
Anfallswahrscheinlichkeit validiert
Die wissenschaftliche Erforschung der Frage, wie groß das Wiederholungsrisiko (Rezidivrisiko) für einen epileptischen Anfall ist, stützt sich in erster Linie auf die Dauer der Anfallsfreiheit. Denn Studien belegen, dass vor allem die Dauer der anfallsfreien Zeit einen verlässlichen Rückschluss auf das Rezidivrisiko eines epileptischen Anfalls erlaubt [1].
Stabil Anfallsfreie dürfen Kfz nutzen
Die gewonnenen, validen Ergebnisse sind direkt in die Beurteilungskriterien der Fahreignung bei Epilepsie eingeflossen. Derzeit gilt:
Nach einjähriger Anfallsfreiheit ist das Rezidivrisiko so gering, dass bei regelmäßiger Medikamenteneinnahme Fahrtauglichkeit für die Führerscheingruppe 1 (Pkw) besteht.
Nach fünfjähriger Anfallsfreiheit ist das Rezidivrisiko ist so gering, dass Fahrtauglichkeit für die Führerscheingruppe 2 (Lkw/Personenbeförderung) ohne Medikation besteht.
Die Berufsgenossenschaften haben sich bei der Ermittlung der anfallsbedingten Gefährdungen am Arbeitsplatz den validen Aussagen zur Fahreignung bei Epilepsie angeschlossen [2]. Epilepsiekranke Mitarbeiter, die ein Jahr unter Medikation anfallsfrei sind (Eignung Pkw), dürfen grundsätzlich ohne Einschränkungen Tätigkeiten mit mittleren Schädigungsfolgen wahrnehmen. Da die Anfallswahrscheinlichkeit sehr gering ist, bestehen laut DGUV Information 250-001 [2] dann „grundsätzlich keine Bedenken”. Beispielberufe für Tätigkeiten mit mittleren Schädigungsfolgen sind Schreiner oder Altenpfleger.
Relevanz Dauer ohne Anfallssymptome
Epilepsiekranke Mitarbeiter, die fünf Jahre ohne Medikation anfallsfrei sind (Eignung Lkw/Personenbeförderung), dürfen grundsätzlich ohne Einschränkungen Tätigkeiten mit erheblichen Schädigungsfolgen wahrnehmen. Es bestehen laut DGUV Information 250-001 [2] „grundsätzlich keine Bedenken”. Beispielberufe für Tätigkeiten mit erheblichen Schädigungsfolgen sind Gerüstbauer, Taxifahrer oder Chirurg.
Wissenschaftlich valide ist aber auch, dass bei einer Anfallsfreiheit unter einem Jahr das Rezidivrisiko für einen epileptischen Anfall erhöht ist. Bei Tätigkeiten mit irreversiblen Schädigungsfolgen muss dann entweder ein Verbot der riskanten Tätigkeit ausgesprochen werden, oder es gelingt mit gezielten Arbeitssicherheitsmaßnahmen, die erwartbaren Schädigungsfolgen auf ein geringes Maß abzusenken. „Gering” ist eine Schädigungsfolge, wenn zum Beispiel lediglich mit Prellungen oder Schürfungen zu rechnen ist. Das ist etwa bei leichten Montagearbeiten oder Tätigkeiten an gut geschützten Maschinen der Fall.
Die Fachkraft für Arbeitssicherheit muss also immer prüfen, ob Arbeitsschutzmaßnahmen helfen, anfallsbedingte Schädigungsfolgen auf ein geringes, vertretbares Maß zu senken. Bei erwartbar geringen und reversiblen Schädigungsfolgen dürfen Tätigkeiten auch erlaubt werden, wenn keine Anfallsfreiheit vorliegt.
Bei der Risikobemessung kann bei bestehender Anfallsneigung berücksichtigt werden,
ob es selten oder häufig zu Anfällen kommt,
ob es eine tageszeitliche Bindung der Anfälle gibt (z. B. nur aus dem Schlaf heraus),
ob eine zuverlässige Aura als protektiver Faktor genutzt werden kann,
ob die gefährdende Tätigkeit selten oder häufig (berufsbestimmend!) ausgeübt wird,
ob der Arbeitnehmer eine qualifizierte Ausbildung besitzt und die Arbeitsschutzmaßnahmen auch umsetzt.
„Grundsätzlich keine Bedenken” bestehen bei Epilepsie am Arbeitsplatz
bei einer fünfjährigen Anfallsfreiheit (ohne Medikation), wenn die erwartbaren Schädigungsfolgen erheblich sind (schwere irreversible Verletzungen/Todesfolge),
bei einer einjährigen Anfallsfreiheit (mit Medikation), wenn die erwartbaren Schädigungsfolgen mittelschwer sind (mittelschwere irreversible Verletzungen),
wenn keine stabile Anfallsfreiheit vorliegt, aber die erwartbaren Schädigungsfolgen gering sind (leichte, reversible Verletzungen).

3 Mit welchen Instrumentarien erfolgt die Risikoabschätzung eines epileptischen Anfalls am Arbeitsplatz?

Einordnung des Risikolevels
Wie riskant ein epileptischer Anfall am Arbeitsplatz ist, muss immer individuell ermittelt werden. Denn es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Anfallsformen, die einer Vielzahl möglicher beruflicher Tätigkeiten gegenüberstehen. Die individuelle Beurteilung lässt kaum erwarten, dass man bei erhöhter Anfallsbereitschaft eines Mitarbeitenden zu allgemeingültigen Beurteilungsempfehlungen kommt. Daher ist die allgemeine Risikomatrix nach Nohl und Thiemecke (1988) die Beurteilungshilfe der ersten Wahl. Die Risikomatrix ermöglicht immerhin eine ungefähre Bestimmung der individuell möglichen, anfallsbedingten Risiken am Arbeitsplatz (s. Abb. 1) [3].
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